Doppelte Wesentlichkeitsanalyse im Kontext der ESRS – ein Leitfaden

Nachhaltigkeit ist zwar in aller Munde, doch oft fehlt es an Klarheit über die relevantesten Ansatzpunkte.

Die sogenannte Wesentlichkeitsanalyse hilft, den Fokus zu wahren und die wichtigsten Themen zu identifizieren. Bei meiner Suche nach geeigneten Tools und Anleitungen zusammen mit der LinkedIn-Community entdeckte ich eine Lücke.

Viele Leitfäden sind nicht genau genug.

Das brachte mich dazu neben der Linksammlung, selbst einen Guide zu entwickeln.

Im Instruktionsdesign entwickle ich systematisch Lernmaterialien für oft komplexe Themen, um diese verständlich und klar in unseren Trainings zu vermitteln. Mit diesem Leitfaden möchte ich Unternehmen dabei unterstützen, ihre Nachhaltigkeitsarbeit gezielt auszurichten.

Lasst uns loslegen.

Was ist Wesentlichkeit? Was ist eine Wesentlichkeitsanalyse?

Wesentlichkeit bezieht sich auf zentrale Themen für Unternehmen und Stakeholder, insbesondere in Bezug auf Umwelt, Gesellschaft und Governance (ESG).

Mit der Wesentlichkeitsanalyse lassen sich die für die Unternehmen relevanten Ansatzpunkte bestimmen. Sie ist ein verpflichtender Bestandteil der European Sustainability Reporting Standards (ESRS), die von der Europäischen Kommission geschaffen wurden, um einheitliche Nachhaltigkeitsberichte zu ermöglichen. Zusätzlich wurde die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) von der Kommission damit beauftragt, Organisationen bei der Erstellung ihrer Nachhaltigkeitsberichte gemäß den ESRS zu unterstützen und stellt dazu Umsetzungshilfen zur Verfügung.

Die ESRS implementieren das Konzept der „doppelten Wesentlichkeit“. Es umfasst zwei Perspektiven:

  1. Inside-Out-Perspektive („Impact Materiality“): Bewertet die Auswirkungen der Unternehmensaktivitäten auf ESG-Aspekte, einschließlich positiver und negativer Effekte.
  2. Outside-In-Perspektive („Financial Materiality“): Untersucht die Einflüsse externer Nachhaltigkeitsfaktoren auf das Unternehmen, mit Fokus auf finanzielle Risiken und Chancen.

Diese duale Betrachtung soll eine umfassende Berücksichtigung von ESG-Themen gewährleisten, die sowohl signifikante externe Effekte als auch erhebliche finanzielle Relevanz haben. Der Analyseprozess umfasst die Identifizierung relevanter Themen, die Bewertung ihrer Bedeutung und die Einbeziehung von Stakeholdern.

Die Ergebnisse der doppelten Wesentlichkeitsanalyse müssen transparent in der Nachhaltigkeitsberichterstattung dargestellt werden, auch wenn sie als nicht relevant eingestuft wurden.

Detaillierter Guide zur ESRS-Wesentlichkeitsanalyse

Dieser Leitfaden bietet eine praktische Einführung in die Wesentlichkeitsanalyse nach den European Sustainability Reporting Standards (ESRS). Er dient als Orientierungshilfe für Unternehmen, die für sie wesentlichen Nachhaltigkeitsaspekte identifizieren möchten.

Disclaimer: Dieser Leitfaden ersetzt keine rechtliche Beratung. Unternehmen sollten ihre spezifischen Anforderungen berücksichtigen und bei Bedarf Experten hinzuziehen, um alle regulatorischen Vorgaben zu erfüllen.

0. Vorbereitung und Festlegung der relevanten ESRS

Vor Beginn der Wesentlichkeitsanalyse ist sicherzustellen, dass die folgenden European Sustainability Reporting Standards (ESRS) als Grundlage festgelegt und berücksichtigt werden:

  • Grundlegende Standards:
    • ESRS 1: Allgemeine Anforderungen – Dieser Standard bildet die methodische Basis für die Wesentlichkeitsanalyse und legt fest, wie die relevanten Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren und zu bewerten sind.
    • ESRS 2: Allgemeine Angaben – Dieser Standard beschreibt verpflichtende Angaben, die unabhängig von der Materialitätsbewertung offengelegt werden müssen.
  • Thematische Standards für die Analyse:
    • Umwelt: ESRS E1 (Klimawandel), ESRS E2 (Umweltverschmutzung), ESRS E3 (Wasser- und Meeresressourcen), ESRS E4 (Biodiversität und Ökosysteme), ESRS E5 (Ressourcennutzung und Kreislaufwirtschaft).
    • Soziales: ESRS S1 (Eigene Belegschaft), ESRS S2 (Arbeitskräfte in der Wertschöpfungskette), ESRS S3 (Betroffene Gemeinschaften), ESRS S4 (Verbraucher und Endnutzer).
    • Governance: ESRS G1 (Geschäftsgebaren).

Hinweis: Alle thematischen Standards müssen in der Wesentlichkeitsanalyse berücksichtigt werden, auch wenn nicht alle am Ende als wesentlich eingestuft werden.

1. Vorbereitung

  • a) Team zusammenstellen:
    • Benenne eine Projektleitung.
    • Integrierte Vertretende aus den Bereichen Nachhaltigkeit, Finanzen, Risikomanagement, HR, Einkauf, Produktion und Vertrieb.
    • Definiere klare Rollen und Verantwortlichkeiten.
  • b) Datensammlung:
    • Erstelle eine Liste aller relevanten internen Dokumente (z.B. Geschäftsberichte, Risikobewertungen, Umweltdaten).
    • Sammle externe Quellen (z.B. Branchenberichte, Regulierungen, Wettbewerbsanalysen).
    • Erstelle eine zentrale Datenbank für alle gesammelten Informationen.
  • c) Stakeholder-Identifikation:
    • Erstelle eine umfassende Liste aller internen Stakeholder (z.B. Mitarbeitende, Management, Eigentümer) und externen Stakeholdern (z.B. Kunden, Lieferanten, Investoren, Aufsichtsbehörden, lokale Gemeinschaften).
    • Priorisiere die Stakeholder nach Einfluss und Interesse.
    • Plane, wie und wann Sie jeden Stakeholder einbeziehen werden.

2. Themenidentifikation

  • a) ESRS-Themen:
    • Verwende die Liste der Nachhaltigkeitsaspekte aus AR 16 des Dokuments 2 (Annex 1 zur Ergänzung der Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates durch Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung).
    • Die Liste umfasst die themenbezogenen ESRS, enthält folgende Hauptthemen und ihre Unter- und Unter-Unterthemen:
      • ESRS E1 Klimawandel: Anpassung an den Klimawandel, Klimaschutz, Energie.
      • ESRS E2 Umweltverschmutzung: Luft-, Wasser-, Bodenverschmutzung, Verschmutzung von lebenden Organismen, besorgniserregende Stoffe, Mikroplastik.
      • ESRS E3 Wasser- und Meeresressourcen: Wasserverbrauch, Wasserentnahme, Meeresressourcen, Ableitung von Wasser.
      • ESRS E4 Biologische Vielfalt und Ökosysteme: Biodiversitätsverlust, Landnutzungsänderungen, Klimawandel, invasive Arten, Auswirkungen auf Arten und Ökosysteme.
      • ESRS E5 Kreislaufwirtschaft: Ressourcenzuflüsse und -abflüsse, Abfälle.
      • ESRS S1 Eigene Belegschaft: Arbeitsbedingungen, sichere Beschäftigung, Entlohnung, sozialer Dialog, Gesundheitsschutz, Gleichbehandlung, Schulungen.
      • ESRS S2 Arbeitskräfte in der Wertschöpfungskette: Arbeitsbedingungen, Gesundheitsschutz, Vielfalt, Kinderarbeit, Zwangsarbeit.
      • ESRS S3 Betroffene Gemeinschaften: Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Bürgerrechte, Rechte indigener Völker.
      • ESRS S4 Verbraucher und Endnutzer: Informationssicherheit, Datenschutz, Zugang zu Produkten, verantwortliche Vermarktungspraktiken.
      • ESRS G1 Unternehmenspolitik: Unternehmenskultur, Schutz von Hinweisgebern, Tierschutz, politisches Engagement, Korruption und Bestechung.
  • b) Unternehmensspezifische Themen:
    • Neben den in den ESRS genannten Aspekten sollten auch unternehmensspezifische Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt werden, die nicht explizit in den ESRS enthalten sind, aber dennoch für das Unternehmen von Bedeutung sind (siehe Dokument 2, Absatz 11).
  • c) Themen-Longlist:
    • Erstelle eine umfassende Liste aller identifizierten Themen, sowohl aus den ESRS als auch unternehmensspezifischen Aspekten.
    • Nummeriere jedes Thema zur einfachen Referenzierung.

3. Doppelte Wesentlichkeitsbewertung

  • a) Outside-in (Finanzielle Wesentlichkeit):
    • Entwickele eine Bewertungsskala (z.B. 0-5) für finanzielle Auswirkungen.
    • Bewerte für jedes Thema:
      • Potenzielle finanzielle Risiken.
      • Mögliche finanzielle Chancen.
      • Kurzfristige Auswirkungen (0-2 Jahre).
      • Mittelfristige Auswirkungen (2-5 Jahre).
      • Langfristige Auswirkungen (5+ Jahre).
    • Dokumentiere Begründungen für jede Bewertung.
  • b) Inside-out (Impact-Wesentlichkeit):
    • Entwickle eine Bewertungsskala (z.B. 0-5) für Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft.
    • Bewerte jedes Thema:
      • Direkte Auswirkungen des Unternehmens.
      • Indirekte Auswirkungen in der Wertschöpfungskette.
      • Positive und negative Auswirkungen.
    • Führe Stakeholder-Befragungen durch (z.B. Online-Umfragen, Interviews).
    • Dokumentiere Begründungen und Stakeholder-Feedback.

4. Bewertungsmatrix erstellen

  • a) Matrix-Design:
    • Erstelle eine 5×5-Matrix in Excel.
    • X-Achse: Outside-in Bewertung.
    • Y-Achse: Inside-out Bewertung.
  • b) Themen-Positionierung:
    • Trage jedes Thema anhand seiner Bewertungen in die Matrix ein.
    • Verwende die Themennummern zur Identifikation.
  • c) Visuelle Darstellung:
    • Nutze Farben oder Symbole, um Themencluster zu kennzeichnen.
    • Erstelle eine Legende zur Erklärung der Darstellung.

5. Schwellenwerte definieren und anwenden

  • a) Schwellenwert-Definition:
    • Lege klare Kriterien für Wesentlichkeit fest (z.B. Themen mit Bewertung >3 in beiden Dimensionen).
    • Dokumentiere die Begründung für die gewählten Schwellenwerte.
  • b) Anwendung:
    • Identifiziere alle Themen, die die Schwellenwerte überschreiten.
    • Erstelle eine Liste der vorläufig wesentlichen Themen.

6. Priorisierung und Validierung

  • a) Interne Validierung:
    • Präsentiere die Ergebnisse dem Management.
    • Diskutiere jedes als wesentlich identifizierte Thema.
    • Dokumentiere Feedback und Anpassungen.
  • b) Externe Validierung:
    • Führe Stakeholder-Workshops oder -Interviews durch.
    • Präsentiere die vorläufigen Ergebnisse.
    • Sammele Feedback und Ergänzungen.
  • c) Finale Priorisierung:
    • Integriere das Feedback in die Matrix.
    • Erstelle eine finale Liste wesentlicher Themen.

7. Dokumentation

  • a) Prozessdokumentation:
    • Beschreibe detailliert jeden Schritt des Analyseprozesses.
    • Füge verwendete Methoden, Teilnehmer und Zeitrahmen hinzu.
  • b) Ergebnisdokumentation:
    • Erstelle einen umfassenden Bericht mit:
      • Finaler Wesentlichkeitsmatrix.
      • Liste wesentlicher Themen mit Begründungen.
      • Zusammenfassung des Stakeholder-Feedbacks.
      • Beschreibung der angewandten Schwellenwerte.
  • c) Entscheidungsdokumentation:
    • Dokumentiere alle wichtigen Entscheidungen im Prozess.
    • Füge Begründungen und beteiligte Entscheidungsträger hinzu.

8. Berichterstattung vorbereiten

  • a) ESRS-Mapping:
    • Ordne jedes wesentliche Thema den relevanten ESRS-Standards zu.
    • Identifiziere spezifische Offenlegungsanforderungen für jedes Thema.
    • Stelle sicher, dass ESRS 2 vollständig berücksichtigt wird, unabhängig von der Wesentlichkeit.
  • b) Datengaps identifizieren:
    • Vergleiche verfügbare Daten mit den Berichtsanforderungen.
    • Erstelle einen Plan zur Schließung von Datenlücken.
  • c) Berichtsstruktur:
    • Entwickle eine Gliederung für den Nachhaltigkeitsbericht.
    • Berücksichtige die Anforderungen von ESRS 1 und ESRS 2.

9. Regelmäßige Überprüfung

  • a) Jährlicher Review-Prozess:
    • Lege einen festen Zeitpunkt für die jährliche Überprüfung fest.
    • Definiere Verantwortlichkeiten für den Review-Prozess.
  • b) Anpassungsmechanismen:
    • Entwickele Kriterien für die Aufnahme neuer Themen.
    • Definiere Prozesse zur Anpassung von Bewertungen.
  • c) Kontinuierliche Verbesserung:
    • Sammele Feedback zum Analyseprozess.
    • Identifiziere Verbesserungspotenziale für den nächsten Zyklus.

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Referenzen

European Commission (2023). Annex 1 zur Ergänzung der Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates durch Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung (ESRS). Abgerufen von: EUR-Lex.
European Commission (2023). European Sustainability Reporting Standards (ESRS). Abgerufen von: EUR-Lex.
European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) (2023). Umsetzungshilfen zur Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten gemäß den ESRS. Abgerufen von: EFRAG Website.

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